UX Design für Neurodiversität: Herausforderungen & Chancen

Digitale Produkte werden von einer vielfältigen Gemeinschaft genutzt – dazu gehören auch Menschen mit Neurodiversität. Unter diesem Begriff versteht man unterschiedliche neurologische Ausprägungen wie ADHS, ADS, Autismus, Dyslexie, Dyskalkulie, Dyspraxie, Angststörungen oder Depressionen. Diese Nutzer:innen erleben Informationen, Reize und Interaktionen oft anders als neurotypische Personen: Manche nehmen ihre Umgebung besonders intensiv wahr, andere kämpfen mit Reizüberflutung, Schwierigkeiten beim Lesen, Planen oder Fokussieren. Für UX- und UI-Designer:innen bedeutet das, Interfaces so zu gestalten, dass sie nicht nur funktional, sondern auch flexibel, verständlich und inklusiv sind.

So funktioniert UX Design für Neurodiversität


1. Kognitive Entlastung durch Klarheit

  • Vermeide visuelle Überladung: Weniger ist mehr. Reduziere Animationen, starke Farbkontraste und ablenkende Elemente.
  • Verwende klare Hierarchien: Überschriften, Absätze und strukturierte Layouts helfen Nutzer:innen mit ADHS oder Autismus, sich besser zu orientieren.
  • Konsistente Navigation: Vertraute Muster geben Sicherheit – das hilft Menschen mit Angststörungen oder Dyspraxie.

2. Flexible Interaktion

  • Anpassbare App Interfaces:   z. B. Light/Dark Mode, Töne können ein- oder ausgeschalten werden, alternative Farbthemen. So können die Nutzer:innen ihr eigenes optimales Setting wählen.
  • Alternative Darstellung von Inhalten: Text-to-Speech für Menschen mit Dyslexie, visuelle Zusammenfassungen für Menschen mit ADHS.

3. Sprache mit Bedacht wählen

  • Klar und einfach: Vermeide Fachjargon und komplexe Sätze. Besonders für Menschen mit Dyslexie oder kognitiven Schwierigkeiten ist eine verständliche Sprache entscheidend.
  • Sensibles Microcopy: Fehlermeldungen oder Hinweise sollten empathisch und nicht bevormundend wirken.

4. Fehlertoleranz und Kontrolle

  • Undo-Optionen: Menschen mit Impulsivität (z. B. bei ADHS) profitieren von der Möglichkeit, Aktionen rückgängig zu machen.
  • Speichern von Fortschritten: Bei kognitiver Erschöpfung hilft es, eine Aufgabe später fortsetzen zu können.

5. Testing mit neurodivergenten Personen

  • Inklusive UX-Tests liefern echte Einblicke: Wie erlebt eine autistische Testperson die Informationsstruktur? Fühlt sich jemand mit Angststörung vom Onboarding überfordert? Nur echte Perspektiven führen zu echten Lösungen.

UX Design für Neurodiversität: Bedürfnisse neurodivergenter User im Überblick

NeurodiversitätTypische Herausforderungen im UX/UI-KontextDesign-Chancen & Lösungen
ADHS / ADSAblenkbarkeit, Schwierigkeiten beim Fokussieren, Impulsivität, Frust bei langen ProzessenKlare Strukturen, kurze Schritte, Undo-Optionen, progressives Onboarding, optionale visuelle Reize für Motivation
AngststörungenÜberforderung durch zu viele Optionen, Stress durch Zeitdruck oder fehleranfällige ProzesseRuhiges, konsistentes Design; freundliche Microcopy; Vermeidung von „Jetzt oder nie“-Situationen; Sicherheit & Kontrolle
DepressionGeringe Energie, Überforderung durch komplexe Aufgaben, Gefühl der ÜberlastungMinimalistische Interfaces, klare Call-to-Actions, Möglichkeit Pausen einzulegen (z. B. Fortschritt speichern), unterstützende Sprache
DyslexieSchwierigkeiten beim Lesen, Verwechseln von Buchstaben, langsame TextverarbeitungKlare, serifenlose Schriftarten, gute Zeilenabstände, Text-to-Speech-Optionen, Piktogramme & Symbole ergänzend einsetzen
DyskalkulieProbleme mit Zahlen, Rechenoperationen und MengenverständnisVisuelle Darstellungen statt reiner Zahlen, Schritt-für-Schritt-Rechner, klare Fehlermeldungen, unterstützende Visualisierungen
Dyspraxie (DCD)Motorische Ungeschicklichkeit, Probleme mit kleinen Klickzielen, Schwierigkeiten bei komplexen AbläufenGroße Buttons & Touch-Ziele, großzügige Abstände, vereinfachte Abläufe, Fehlertoleranz & „Rückgängig“-Funktion
Autismus-SpektrumReizüberflutung durch Farben/Animationen, Schwierigkeiten mit uneindeutiger Sprache oder inkonsistenter StrukturVorhersagbare Navigation, klare Sprache, reduzierbare Reize, Anpassungsmöglichkeiten (z. B. „Low-Stimulus“-Modus)

UX Design für Neurodiversität: Tools & Ressourcen

  • WAVE (Web Accessibility Evaluation Tool) – überprüft Barrierefreiheit
  • Stark – Figma-Plugin zur Farb- und Kontrastprüfung
  • Clear Language Checklisten – für bessere Textgestaltung
  • Neurodiversity Design System – Open-Source Design Guidelines (z. B. von der Autistic Self Advocacy Network inspiriert)

Unterschiedliche Bedürfnisse innerhalb der Neurodiversität

So bunt und intensiv, wie dieses Bild, kann sich ADHS anfühlen: Eine ungefilterte Wahrnehmung und der Kopf voller Reize. Umso wichtiger ist eine klare Nutzerführung in digitalen Erlebnissen.

ADHS – Neurodiversität beim UX Design mitdenken
Foto: logan-voss–uqczVZNVsw-unsplash

Ein wichtiger Punkt beim Design für Neurodiversität ist, dass es keine universelle Lösung gibt. Selbst innerhalb derselben Diagnose können die Bedürfnisse und Vorlieben sehr unterschiedlich sein. Ein Beispiel aus meiner eigenen Praxis: Eine Klientin mit ADHS wünschte sich für ihre Website starke Farben und klare Kontraste. Während viele ADHS-Betroffene eher minimalistische, reizärmere Interfaces bevorzugen, empfand sie die bunte Gestaltung als anregend und motivierend.

UX Design für Neurodiversität ist auch in bunt möglich, es sollte nur für Klarheit im Design gesorgt werden.
Auch buntes Design kann Klarheit ausstrahlen. (Beispiel aus meiner Arbeit)

Dieses Beispiel zeigt: Neurodiversität ist Vielfalt. Was für die eine Person Ablenkung darstellt, kann für eine andere Quelle von Inspiration sein. Darum ist es wichtig, Design nicht nur auf theoretischen Annahmen aufzubauen, sondern gemeinsam mit den betroffenen Nutzer:innen zu entwickeln. Iteratives Testen, Feedbackschleifen und gegebenenfalls Personalisierungsoptionen (z. B. Farbmodi, reduzierte Animationen) helfen, diese Unterschiede abzubilden.


Fazit: Barrierefreiheit heißt, Menschen mit Neurodiversität mitzudenken, statt sie aus dem Nutzungserlebnis auszuschließen.

UX/UI Design für neurodivergente Menschen ist kein Sonderfall, sondern Teil eines ethischen, zukunftsfähigen und nutzerzentrierten Designprozesses. Es geht darum, Produkte zu schaffen, die nicht nur funktionieren, sondern sich für alle richtig anfühlen. Wer neurodiverse Bedürfnisse ernst nimmt, designt nicht nur barriereärmer, sondern menschlicher.

Barrierefreies Design für Apps
Knalliges Design und trotzdem barrierefrei. (Beispiel aus meiner Arbeit)

photocredits Titelbild: hiki-app-vvW2WF-999g-unsplash